Sidonie Hetzenecker live. 4. Teil

Abgründe

Sidonie war dort unterwegs, wo sie sich zuhause fühlte. Allein. Seit dem frühen Morgen lief sie an diesem sonnigen Septembermontag schon die Hänge des Zahmen Kaisers entlang, die Bergschuhe machten die Arthrose am linken großen Zeh erträglich und sie hatte es zum ersten Mal bis ganz zum Schluss des Habersauer Tals geschafft.

Wenn sie jemand fragen würde, warum sie das täte, könnte sie sagen, der Weg sei das Ziel und sie liebe die Berge, aber das wäre nicht die ganze Wahrheit. Eigentlich war sie auf der Suche nach den Fröschen in den Wassertrögen, die sie den Kindern früher gern gezeigt hatte.

Als sie noch besser sehen konnte, entdeckte Sidonie immer welche. Sie ließen sich durch die Bewegung ihrer Hand im Wasser aufschrecken und paddelten zur Freude der Kinder hektisch durch das Becken. Heute hatte sie kein Glück, das Wasser in den Trögen war zu trüb für ihre Augen, speziell für das linke, das vor kurzem einen bräunlichen Schleier über ihre ohnehin schlechte Sicht gelegt hatte. Das Leben schien sich für sie mit den Jahren zu verdunkeln. Sidonie war entschlossen, diese unerfreuliche Entwicklung mit Würde zu tragen, was ihr wie das meiste, was sie so beschloss, nur bedingt gelang.

Jetzt war sie auf dem Heimweg. Auf den Hängen weit oben über dem Walchsee stolperte sie unaufmerksam dahin, auf einem schmalen, von Felsbrocken gesäumten Pfad, der etwas abseits der normalen Route ins Tal führt.

Sidonie war sich bewusst, dass sie vermutlich nur einen Bruchteil dessen sah, was andere sehen, doch sie konnte nicht einschätzen, wie viel ihr tatsächlich entging. Das stellte sich meist erst nach Fehlleistungen heraus, die sie zu vertuschen suchte, manchmal konnte sie den fehlenden Gesichtssinn auch durch eine Art Radar ausgleichen, der sich, so schien es, im Laufe der Zeit ausgebildet hatte. Sie spürte die Materie – nur eben nicht immer. Bzw. nicht immer rechtzeitig.

Und in der Vorab-Ortung von Kreuzottern hatte sie nun leider gar keine Übung. Deshalb grub die erschrockene Schlange, die so unsanft von einem Bergstiefel zur Seite geschubst wurde, ihre Zähne herzhaft und Kreuzotterngift verspritzend in Sidonies rechtes Schienbein.

Manchmal ist es eben unzweifelhaft wichtig, etwas rechtzeitig zu sehen.

(Forts. folgt vielleicht)

Copyright: Corinna Wagner